[REVIEW] Genesis - Foxtrot (1972)
Verfasst: So 15. Jun 2025, 11:58

Genesis - Foxtrot (UK, 1972)
Obwohl "Nursery Cryme" bei den Verkäufen hinter den Erwartungen zurückblieb und die Zuschauerzahlen bei Livegigs immer noch stagnierten, glaubten Genesis weiterhin voll und ganz an ihre Musik. Gleichzeitig war ihnen aber auch klar, dass noch mehr Initiative notwendig sein würde, um ein breiteres Publikum für sich zu gewinnen. Durch überraschend hohe Chartplatzierungen in Belgien und Italien kam die Band zu ihren ersten größeren Headlinergigs im Ausland, wo ei wie Superstars gefeiert wurden. Bei diesen Auftritten entwickelte sich Peter Gabriel endgültig zu einem selbstbewussten, erstklassigen Frontmann, der es verstand, das Publikum in Genesis' Fantasiewelten zu ziehen, während die restliche Band im Hintergrund zur Dramatik beitrug. Gabriels skurrilen Kurzgeschichten, die er zwischen den Songs erzählte, um der Band mehr Zeit für das Umstimmen ihrer Instrumente zu verschaffen, und seine fantasievollen Verkleidungen, die seine Texte und deren Bewohner veranschaulichten, begeisterten die Fans mehr und mehr. Der Sänger griff immer öfter und tiefer in die Kostümkiste und brachte so mehr Leben und Bewegung in die bis dahin statischen Liveshows der Truppe. Mehr noch, nachdem der Frontmann sein berühmtes rotes Kleid samt Fuchsmaske live zur Schau trug, verdoppelten sich die Absatzzahlen und Gagen der Band. „We'd be doing the same thing for three years and suddenly with the visuals we started getting attention. We were very surprised how easy it was to get to the front page of Melody Maker just by wearing a flower on your head“ gab Phil Collins damals zu Protokoll, nichts ahnend, dass dies ein paar Jahre später zur Trennung Gabriels führen würde. Presse und Fans fokusierten sich nämlich immer stärker auf den Frontmann und seine außergewöhnlichen Verkleidungen, was zur Folge hatte, dass sich die restlichen Musiker immer mehr nur als eine Art Begleitband vorkamen. So bildeten sich erste Risse im noch jungen Bandgefüge, die drei Jahre später in Gabriels Ausstieg gipfelten. Aber 1972 nahmen noch alle in der Band die Maskerade des Sängers in Kauf. Und „Foxtrot“ lieferte Gabriel dann auch ganz viel Stoff für seine Performances. Es gab Aliens, Hofnarren, Könige, Immobilienhaie, den Rattenfänger von Hameln....und ein ziemlich ausuferndes Abendessen.
DasAlbum war das bis dahin organischste der Band. Die Lieder fühlten sich noch akurater und stimmiger ausgearbeitet an als beim Vorgänger, der Sound war ausbalancierter, die einzelnen Instrumente wurden deutlicher wahrgenommen. Anders als zuvor war man nun hervorragend aufeinander eingespielt und hatte den eigenen Stil gefestigt. Und das war auch wichtig, denn es passiert sehr viel in den Songs. "Foxtrot" ist ein aufregendes, sehr melodramatisches Album mit viel Dynamik, Kontrast, Spannung und Fantasie. Genesis wurden Anfang 1972 immer noch als kleine Band gehandelt, obwohl ihre Musik mittlerweile bei weitem mehr war. "Nursery Cryme" hatte auf kreativem Niveau ziemlich hohe Maßstäbe gesetzt, und es war mehr als offensichtlich, dass etwas ganz Besonderes nötig sein würde, um die fünf Musiker auf die von ihnen herbeigesehnte nächste Stufe zu pushen.

Der Opener 'Watcher Of The Skies' startet mit zwei Minuten langsam anschwellendem Mellotronbombast, ehe eine eindringliche Stakkatofigur (die mich an Gustav Holsts 'Mars, The Bringer Of War' erinnert) übernimmt und Gabriel von einem Außerirdischen berichtet, der auf einer verlassenen und vollkommen verwüsteten Erde landet und sich fragt, wie es so weit kommen konnte. Haben die Menschen sich selbst zerstört, oder sind sie einfach nur weitergezogen, weil sie die Ressourcen des Planeten aufgebraucht hatten? Die treibenden Drums und der dazu passend pulsierende Bass tragen den (für Genesis Verhältnisse relativ straighten) Song mit ihrer donnernden Rhythmusarbeit fast alleine. Banks’ Spiel ist atemberaubend und unterstreicht seine Dominanz als führender Instrumentalist, während Rutherford sich endlich als wertvoller Bassist erweist und gemeinsam mit Collins ein kraftvolles Fundament bildet, das sie in den restlichen Songs beibehalten. Das Finale wird dann wieder von Mellotronklängen dominiert, der Besucher verlässt den Planeten und entschwindet in die unendlichen Tiefen des Alls.
Nach dieser düsteren Zukunftsvision entführt uns 'Time Table' mit seiner wunderschönen, barocken Melodie ganz weit zurück ins Mittelalter. Der tolle Text, der kurioserweise von einem Eichentisch (=Wortspiel im Titel) erzählt wird, beschwört Bilder von Rittern, Königen und Hoffnarren herauf und grübelt darüber nach, wie die Menschen sich in jedem Zeitalter den vorangegangenen Zivilisationen als überlegen betrachten, am Ende aber doch jeder im Tod gleichgestellt ist. Die Musik bleibt dabei durchgehend unaufgeregt, man könnte sogar das Wort Ballade in den Mund nehmen. Ich liebe es, wie die strukturell gesehen fast schon schlichte Nummer dramaturgisch geschickt als Kontrapunkt zwischen den furiosen Opener und das danach kommende, radikale 'Get'Em Out By Friday' gesandwicht wurde.
Besagtes 'Get'Em Out By Friday' handelt von gewissenlosen Mietspekulanten und ihren fiesen Praktiken. John Pebble, Chef der Immobiliengesellschaft Styx Enterprises, will um jeden Preis einige langjährige Mieter aus von ihm neu erworbenen Objekten raushaben um diese dann deutlich teurer an neue Kunden zu vermieten. Er beauftragt seinen Angestellten Mark „The Winkler“ Hall (to winkle = rauswerfen), die „menschlichen Altlasten“ bis spätestens Freitag an die Luft zu setzen. Hall setzt List und Gelder ein und kann die Bewohner, im Song vertreten durch Mrs. Barrow, umsiedeln – in einen anderen Wohnkomplex von Styx Enterprises. Zum Ende hin machen Musik und Text einen Zeitsprung ins Jahr 2012, also vierzig Jahre nach Release der Platte, wo das Problem der Wohnraumnot mit einer genetischen Begrenzung der Körpergrösse gelöst wird. „It is my sad duty to inform you of a four foot restriction on humanoid height“. So kann man noch mehr Menschen in Gebäude reinquetschen und noch mehr Geld verdienen. Absurde Sozialkritik a la Genesis, mit einem von der Leine gelassenen Gabriel, der mit seiner wie immer eigenartigen Erzählweise jede Rolle des Songs wunderbar glaubwürdig vorträgt. Das Lied ist von aggressiven Forderungen der Makler, aber auch hilfloser Traurigkeit der Mieterin durchzogen, die permanenten Stimmungswechsel werden instrumental glänzend untermalt und dargestellt. Jede der Figuren hat eine eigene Melodie und Stimmung. Mal brachial, mal dezent zeigt die Band, wie tight, eingespielt und kreativ sie damals war. Vom ersten Ton an glänzt der Track mit komplexen Arrangements und gegensätzlichen musikalischen Ideen. Rutherfords Spiel erreicht hier fast Chris Squire Niveau, was auf späteren Reissues noch besser zur Geltung kommt. Das hier ist kein Lied, das ist Hörspiel-Prog, wie er besser nicht geht.
Das folgende 'Can-Ultility And The Coastliners' wird viel zu selten erwähnt, wenn es um die besten Tracks der Gabriel-Ära geht. Trotz seiner bescheidenen Länge gelingt es dem Song, mit einigen sehr schönen Themen und Melodien absolut jede Seite der damaligen Bandphase einzufangen. Um den Text zu verstehen, muss man wissen: Coastliners = Küstenfahrer = Wikinger. Die Lyrics handeln vom dänischen Wikingerkönig Knut/Knud (ca. 995-1035), der nicht so richtig von den restlichen christlichen Anführern Europas akzeptiert wurde, da sie ihm heidnisches Denken und Handeln, sowie das Herumexperimentieren mit schwarzer Magie unterstellten. U.a. warfen sie ihm vor, im Bann mit dem Teufel zu stehen und dadurch die Gezeiten beherrschen zu können. Um diesen Vorwurf zu entkräftigen, ließ Knut seinen Thron an einem Strand aufbauen und wartete auf die Flut. Diese spülte Thron und König hinweg, was die Vorwürfe gegen den König entkräftigte. Knut kniete vor Gott, senkte sein Haupt und ward fortan von Seinesgleichen anerkannt. Toller Song, interessantes Thema, und alles so verdammt dicht und flüssig komponiert und dargeboten. Allein schon, wie das Mellotron mit seinem majästetischen Sound den aufs Wasser starrenden König symbolisiert, während die parallel laufende Bassfigur für den ansteigenden Pegel steht, das ist einfach fantasievoll umgesetzt.

Die ruhige, guitar only Nummer 'Horizons' ist dann ausschließlich Hacketts Baby. Hier darf er zeigen, was er drauf hat. Das macht er natürlich auch auf den restlichen Nummern, aber offensichtliche Solospots hat er nicht viele. Songwriting Credits übrigens auch nicht. Oft darf Hackett Gegenmelodien zu Banks spielen und bei den lauten Passagen der Lieder mit seiner Zwölfsaitigen für mehr Druck im Sound sorgen, dabei bleibt er aber meistens mehr Unterstützer denn Spotlighter. Tatsächlich dachte der Gitarrist damals darüber nach, die Band zu verlassen, da er sich kompositorisch den anderen unterlegen sah und sich nicht traute, mehr aus sich raus zu gehen, geschweige denn Material für das Album beizusteuern. Doch er konnte umgestimmt werden und blieb. Hier bei 'Horizons' bedient er sich eines Motivs von Johann Sebastian Bach und breitet mit seinen leisen Tönen auf der Akustischen den Audio-Teppich aus für das, was danach kommt....
....und das ist nichts anderes als die funkelnde Krone der Prog-Schöpfung. Einer DER Songs, die immer genannt werden, wenn es um Genrehighlights geht. Alle Progheads sind eingeladen, gesellen sich freudestrahlend zu Tisch und legen behutsam die Serviette auf den Schoß, denn 'Supper's Ready'. Was soll man über diese prallbrüstige, bedingungslos liebende Mutter aller Longtracks noch schreiben? Mit seiner musikalischen Breite, der einzigartigen Stimmung und den völlig abgedrehten Lyrics stellt der Song etwas ganz Besonderes dar. Obwohl weiterhin überwiegend Keyboard-lastig, kommt das gesamte Können und die Sounds der Band zum Vorschein. Gabriel hält das Ganze erneut mit seiner charakteristischen Erzählkunst und seinem unglaublichen Gespür für Intonation zusammen. Ob zartes Flüstern oder kratziger Überschwang – sein Gesang ist unübertroffen und einzigartig. Und auch bei den Texten zieht er alle Register. Im Prinzip handelt das in sieben Parts unterteilte Lied vom ältesten aller Themen, dem Kampf zwischen Gut und Böse, wobei die Geschehnisse mit ganz vielen kuriosen Details angereichert werden. Ein altes Ehepaar, griechische Mythologie, William Blake, die Offenbarungen des Johannes, übel gelaunten Pharaonen, und und und.
Mit dem akustischen 'Lover's Leap' Intro wird das Setting präsentiert, zu Beginn noch mit pastoralen und nachvollziehbaren Tönen und Lyrics. Als Inspiration diente Gabriel eine übernatürliche Erfahrung, die er zusammen mit seiner Frau in einer einsamen Waldhütte erlebte. Beim nächsten Teil 'The Guaranteed Eternal Sanctuary Man' ändern Text und Musik ihren Charakter, es wird düsterer, und hier steigt nun auch die komplette Band ein und bietet klassischen 70er Rock. Mit dem darauf folgenden Abschnitt 'Ikhnaton And Itsacon And Their Band Of Merry Men' wird dann mit einer epischen Schlacht ein erster dramatischer Höhepunkt erreicht. Der Bass schrammelt, die Drums klingen heavy, Hackett darf solieren, Banks feuert ein Arpeggio nach dem anderen ab. In 'How Dare I Be So Beautiful?' beklagt der Sänger dieses sinnlose Blutbad, während es beim exzentrischen 'Willow Farm' erneut zu einem krassen Stilwechsel kommt, als plötzlich ein Zugschaffner mit seiner Pfeife und einem lauten „All change!“ („Alle umsteigen!“) nochmals für einen kompletten Wechsel von Musik und Stimmung sorgt. Das Lied wird jetzt noch exzentrischer, die präsentierten Ideen springen wie kleine Kinder auf einem Trampolin wild durcheinander. Die fast schon schizophrene Kreativität Gabriels sprudelt hier aus ihm heraus, seine Hirnaktivität hätte damals bestimmt ganze Stadtviertel mit Licht versorgen können. Doch auch die Instrumentalisten setzen Duftmarken. Wie z.B. Banks, der bei 'Apocalypse In 9/8 (Co-Starring The Delicious Talents Of Gabble Ratchet)' mit einem seiner genialsten Solos überhaupt glänzen darf. Nüchtern betrachtet spielt er hier „nur“ Tonleitern hoch und runter, aber in Kombination mit dem im Titel angegebenen Rhythmus klingt das einzigartig und so böse wie beabsichtigt, und dadurch schlichtweg genial. Das Ende der Welt am Ende der Welt - Peak 70s Prog, ey. Im Finale 'As Sure As Eggs Is Eggs (Aching Men's Feet)' laufen dann die Fäden mehr oder weniger zusammen, das 'Lover's Leap' Motiv bekommt eine Reprise, während der Hörer damit beschäftigt ist, nach dem Sinn der Lyrics zu suchen. Dazu passt dann auch das aberwitzige Artwork, welches die Stimmung der Musik hervorragend einfängt. Im Netz gibt es zahlreiche Vesuche, den Text zu erklären, aber ganz egal, wie man die Story auch deutet, Armageddon klang nie schöner. Und Nerds fragen sich, ob die besungene, gerade untergegangene Welt jene ist, die zeitlich gesehen sehr viel später vom Außerirdischen des Openers besucht wird? Die Fantasie macht jedenfalls freiwillig Überstunden, und die Band lächelt währenddessen den Hörer schelmisch an - im Wissen, dass "Foxtrot" ihn nie wieder loslassen wird.