[REVIEW] Roine Stolt • Wall Street Voodoo (2005)

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Beatnik
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[REVIEW] Roine Stolt • Wall Street Voodoo (2005)

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Roine Stolt hatte sich nach langen Jahren als hauptverantwortlicher Gitarrist und Komponist bei der schwedischen Progressive Rockband The Flower Kings anlässlich seines bis dato fünften Soloalbums für einmal ziemlich weit abseits der bereits ausgetretenen progressiv-musikalischen Pfade gewagt und sich an seinen ganz persönlichen und für ihn wichtigen Musikgrössen und Idolen seiner Jugendzeit orientiert, um ihnen gebührend Tribut zu zollen. Dies selbstverständlich nur mit musikalischen Zitaten und Anlehnungen, aber ausschliesslich mit eigenen Kompositionen. Wenn man das musikalische Ergebnis anhört, merkt man sehr schnell, welche Einflüsse für Roine Stolt offenbar am wichtigsten und nachhaltigsten waren: Es gibt immer wieder Verneigungen gitarristischer Art etwa vor Jimi Hendrix, aber auch vor Eric Clapton, Peter Green, Robin Trower und am prägnantesten vielleicht Duane Allman. Heraus kam dabei natürlich kein typisches Flower Kings Album, sondern ein sehr clever aufgemachtes, leicht Bluesrock-lastiges Album inklusive tollem Gesamtkonzept. Natürlich schimmern wimmer wieder typische progressive Elemente seiner Stammband durch, doch erinnert das als Ganzes angehört dann doch eher an ein recht frei interpretiertes Jam Rock Album, das in der Tat am nähesten an die Allman Brothers heranreicht, jedoch in letzter Konsequenz dann doch noch etwas mehr an Frickeligkeiten bietet, wenn auch in recht bescheidenem Ausmass. Immerhin erliegt Roine Stolt hier nicht der Misere, mehrere unterschiedliche Gitarren-Stile nebeneinanderher zu spielen, sondern versteht es ausgezeichnet, die unterschiedlichen Spielweisen der genannten Gitarristen geschickt miteinander zu kombinieren, zu verweben, zu einem neuen solistischen Stil zu verarbeiten, der manchmal von allem ein bisschen präsentiert: Ein Tupfer Allman über einem Clapton-Lauf beispielsweise, oder ein typisch Hendrix'sches Solo mit bluesig gefärbten, an Peter Green erinnernden Motiven.

Man mag sich vielleicht zu allererst einmal fragen, für was für eine Klientel Roine Stolt dieses Album eingespielt hatte. Ich denke, er hat dieses Werk zuerst einmal ganz für sich gemacht. Dann aber natürlich auch, um seine Roots auszuleben, und dies auch noch ganz in seiner eigenen Art als Konzeptwerk. Die Thematik des Albums ist der Werteverfall der Menschheit, das Geld, das alles regiert und zusammenhält, bis es zum grossen Knall kommt und die offensichtliche Unfähigkeit der Erdenbewohner, die vorhandenen und knapper werdenden Ressourcen zu bewahren und sorgsam und bedacht mit ihnen umzugehen. Ein schönes Thema, das wiederum Assoziationen zum progressiven Konzeptrock der Flower Kings weckte. Also eigentlich bewegte sich Roine Stolt gar nicht mal so weit weg von der Art, Musik zu machen, die man schon seit jeher von ihm kannte. Musikalisch allerdings war das nicht Flower Kings-mässig, was er da ablieferte. Der Blues in seiner rockigen Spielart drang hier aus jeder Pore. Es wurde vom ersten Moment an gegroovt. Die Musik erhielt enorm viel Raum zum Atmen. Die Songs waren in den seltensten Fällen nach vier Minuten beendet. Statt dessen durfte die Band, zu der Marcus Lillequist am Schlagzeug, Victor Woof am Bass sowie bei einzelnen Liedern noch Neal Morse Gesang und Gonzo Geffen an den Keyboards gehörten, ihrem Spieltrieb freien Lauf lassen. Und das taten sie zur Freude des Hörers musikalisch absolut überzeugend. Lillequist liess sein Schlagzeug mal fein shuffeln und dann wieder straight grooven, er hielt die Band bei allen Expeditionen immer tight zusammen und gab immer einen wunderbaren Bluesrock-Grundrhythmus vor.

"Wall Street Voodoo" konnte nicht nur durch ein geschicktes Namedropping überzeugen. Die sechzehn erstklassigen Bluesrock-Kompositionen gingen rasch ins Ohr und boten über knapp zwei Stunden Spielzeit hinweg kurzweilige Unterhaltung. Einmal gab sich Roine Stolt betont funky, wie etwa im Titel "Everybody Is Trying To Sell You Something", mal ergaben sich progressivere Frickel-Passagen wie im abschliessenden "People That Have The Power To Shape The Future". Die teils auffallend langen Songtitel wurden durch ein gemeinsames Grundthema zusammengehalten und erzählten von den Dingen, die in unserer modernen Welt am wichtigsten scheinen: Viel Geld zu verdienen, schnelle Autos zu fahren und der Dekadenz zu verfallen. Genau der richtige Stoff also für alle Zivilisationskritiker unserer Zeit. Einen richtigen Hit, der sich so schnell nicht mehr aus den Gehörgängen vertreiben liess, konnte Roine Stolt auf "Wall Street Voodoo" zwar nicht präsentieren, dafür bewegten sich die Titel des Doppelalbums aber auf einem konstant hohen Niveau, das glücklicherweise keinen Raum für unterklassigen Füllstoff bot. Interessant und absolut hörenswert waren auch die teils sehr gschmeidigen und rhythmisch anmachenden Basslinien, gespielt von Vistor Woof. Er überraschte immer wieder mit einem leicht singenden Ton und verstand sein Instrument nicht nur als reines Rhythmusinstrument wie bei üblichen Rockbands meist hörbar, sondern spielte häufig eigene Linien, die den Songs eine zusätzliche melodiöse Ebene geben, die zum mehrfachen Hören verleitete. Der Spass bei den Aufnahmesessions war auf jeden Fall deutlich hörbar. Akzentuiert wurde das alles durch den Einsatz von Hammond Orgel, Stage Piano und Moog. Dies gab dem Album einen sehr authentischen, vibrierenden und erdigen Blues-Sound, der jenem der frühen Allman Brothers ziemlich oft recht nahe kam.

Das Highlight des Albums war jedoch das zu fast jederzeit extrem gefühlvolle Gitarrenspiel von Roine Stolt. Soviel Blues hätte man dem progressiven Rockmusiker gar nicht zugetraut, wenn man nur seine bisherigen Alben mit den Flower Kings und Transatlantic, sowie seine vier Soloalben davor betrachtet hatte. Aber ja, dass er den Blues hat, konnte er hier eindrücklich unter Beweis stellen. Seiner Gitarre hatte er zudem einen erstklassigen Sound verpasst, der ideal zum Bluesrock passte. Und er nahm sich viel Zeit, seine Melodielinien zur Entfaltung zu bringen. Zudem liess er die verwendeten Fender, Les Paul, Rickenbacker und diversen anderen Gitarren herrlich und beseelt singen, kreischen und rocken. Dazu brauchte man sich nur den Opener "The Observer" oder das mit einer wundervollen Slide Gitarre gespielte "Dirt" anhören. In manchen Passagen von "Dog With A Million Bones" hörte man sogar leichte Zitate von Frank Zappa's abstrakten Spielmustern heraus. Eine solche hörbare Bandbreite an musikalischen Einflüssen fand man selten auf einem mehr oder weniger schlüssigen Bluesalbum. Eine weitere positive Überraschung stellten die anspruchsvollen Songtexte dar. Hörte man sonst häufig auf Bluesalben immer wieder dieselben Geschichten rund um die Themen Liebe, Verlust und Tod, so waren die Texte von "Wall Street Voodoo" es definitiv wert, das beigelegte Booklet herauszuholen und sich damit auseinander zu setzen. "The Observer" behandelte beispielsweise sehr eindringlich die Ungerechtigkeit, die in der Welt herrscht, während sich die Zeilen zu "Head Above Water" um Konsumwahn und schnellen Genuss drehten. Auch die Pop-Stars mit ihrem Anhang an Betreuern, Speichelleckern und Nutzniessern blieben nicht unbehandelt, nachzuhören in "Dog With A Million Bones".

Den Gesang auf dem Album teilten sich Roine Stolt und Neal Morse. Die beiden kannten sich ja aus gemeinsamen Transatlantic-Tagen und Stolt hatte auch auf Solowerken von Neal Morse auch einige Gitarrenpassagen gespielt. Zu Neal Morse's Stimme muss man eigentlich nicht viel sagen. Sie ist eine der ausdrucksstärksten im Bereich der heutigen Rockmusik. Alles in allem war "Wall Street Voodoo" ein sehr gelungenes Solo-Projekt, mit sehr gefühlvoller und ausdrucksstarker Musik, herrlich umgesetzt von exzellenten Musikern. Fans von Kenny Wayne Shepherd, Johnny Lang und dem bluesigen Gary Moore sollten auf jeden Fall mal in dieses Album hineinhören. Sie könnten mehr als nur angenehm überrascht werden. Roine Stolt hatte es mit diesem Album geschafft, sich zwischen alle stilistischen Stühle zu setzen. Und das war gut so, weil es die eigenen, bequemen, eingefahrenen Hörgewohnheiten in Frage stellte und dadurch Missverständnisse geradezu herausforderte. Denn weder bediente es die gängigen Bombast- und Progressive Rock-Klischees, noch war es ein typisches Retro-Bluesalbum. Es war irendwie etwas ganz Neues, Originelles, ein postmodernes Rock-Kaleidoskop, dessen Elemente sich ständig veränderten, das vibrierte und changierte, durch die Gitarre aber gleichsam geerdet wurde. Sicher, die Musik nahm ihren Ausgangspunkt bei den Heroen der späten 60er Jahre, versuchte aber nicht, diesen spezifischen Sound authentisch wiederzubeleben, was eher langweilig und beliebig gewesen sien dürfte, sondern ging schnell eigene Wege. "Wall Street Voodoo" war durchaus sperrig und gewöhnungsbedürftig und hinterliess vielleicht deshalb bei vielen Hörern zunächst eine gewisse Ratlosigkeit. Roine Stolt's notorischen Verächter sahen sich bestätigt und betrachteten das Werk eher kritisch bis ablehnend; aber auch seine Fans mussten erst lernen, mit dieser geballten Ladung von angeschrägtem Psycho-Blues umzugehen.

Diese Musik hatte darum letztlich wohl keine bestimmte Zielgruppe, sondern stand ganz für sich selbst da, sie wollte erobert werden, machte dem Hörer das Kompliment, dass sie ihm nichts konzedierte, keine Erwartungen bediente, nur ihrer eigenen Dynamik, ihrer eigenen inneren Logik gehorchte. Man musste im Grunde ganz neu hören lernen, um dieses Album richtig zu hören. Grob umschrieben hätte man es vielleicht so ausdrücken müssen: Bluesige Gitarren-Jams aller Schattierungen und Spielarten, eingebettet in kantig-zerklüftete, psychedelische, leicht angeproggte Songstrukturen. Nichts für den musikalischen Quickie zwischendurch, kein lauer New Artrock, kein süffiger Balsam für die stressgeplagte Seele, sondern Musik, die fordert, die an- und aufregt, die gängige Klischees durchbricht, und die man wohl entweder nur lieben oder hassen kann. Wer nicht die "schnelle Nummer" suchte, die musikalische Beschleunigung von Null auf Hundert in 2 Sekunden, sondern wer die Zeit und den Willen mitbrachte, sich dem Flow dieses Albums zu überlassen, wurde am Ende jedoch reich belohnt. So vieles, was heutzutage gerade auch im Bereich progressiver Musik gelobt und gepriesen wird, ist im Grunde nichts weiter als gepflegter musikalischer Rasen, ein netter Töne-Garten, in welchem es sich angenehm leben lässt. Roine Stolt's Musik ist dagegen musikalisches Urgestein, Wildwuchs, Urwald und Abenteuer.



Ich spreche ein paar Brocken Klartext und fliessend ironisch.

Die wunderbare Zumutung, selbst denken dürfen zu müssen.
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Louder Than Hell
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Re: [REVIEW] Roine Stolt • Wall Street Voodoo (2005)

Beitrag von Louder Than Hell »

Roine Stolt ist mir seit den Anfangstagen von Kaipa aus dem Jahre 1975 ein Begriff und ihre ersten beiden Alben sind auch hier heimisch geworden. Die späteren Sachen haben mich dann aber nicht mehr so richtig einfangen können. Insofern habe ich ihn aus den Augen verloren. Auch die Flower Kings haben später nicht so richtig bei mir zünden können.

Trotzdem hat mich deine gelungene Rezi neugierig gemacht und ich habe in die beiden Songbeispiele reingelauscht. Das Gitarrenspiel fand ich bärenstark und auch der musikalische Aufbau der beiden Songs ist mehr als überzeugend. Vielleicht sollte ich doch noch einmal bei den Flower Kings reinhören.
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Sirius
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Re: [REVIEW] Roine Stolt • Wall Street Voodoo (2005)

Beitrag von Sirius »

Beatnik hat geschrieben: Di 29. Apr 2025, 14:22 Bild

Roine Stolt hatte sich nach langen Jahren als hauptverantwortlicher Gitarrist und Komponist bei der schwedischen Progressive Rockband The Flower Kings anlässlich seines bis dato fünften Soloalbums für einmal ziemlich weit abseits der bereits ausgetretenen progressiv-musikalischen Pfade gewagt und sich an seinen ganz persönlichen und für ihn wichtigen Musikgrössen und Idolen seiner Jugendzeit orientiert, um ihnen gebührend Tribut zu zollen. Dies selbstverständlich nur mit musikalischen Zitaten und Anlehnungen, aber ausschliesslich mit eigenen Kompositionen. Wenn man das musikalische Ergebnis anhört, merkt man sehr schnell, welche Einflüsse für Roine Stolt offenbar am wichtigsten und nachhaltigsten waren: Es gibt immer wieder Verneigungen gitarristischer Art etwa vor Jimi Hendrix, aber auch vor Eric Clapton, Peter Green, Robin Trower und am prägnantesten vielleicht Duane Allman. Heraus kam dabei natürlich kein typisches Flower Kings Album, sondern ein sehr clever aufgemachtes, leicht Bluesrock-lastiges Album inklusive tollem Gesamtkonzept. Natürlich schimmern wimmer wieder typische progressive Elemente seiner Stammband durch, doch erinnert das als Ganzes angehört dann doch eher an ein recht frei interpretiertes Jam Rock Album, das in der Tat am nähesten an die Allman Brothers heranreicht, jedoch in letzter Konsequenz dann doch noch etwas mehr an Frickeligkeiten bietet, wenn auch in recht bescheidenem Ausmass. Immerhin erliegt Roine Stolt hier nicht der Misere, mehrere unterschiedliche Gitarren-Stile nebeneinanderher zu spielen, sondern versteht es ausgezeichnet, die unterschiedlichen Spielweisen der genannten Gitarristen geschickt miteinander zu kombinieren, zu verweben, zu einem neuen solistischen Stil zu verarbeiten, der manchmal von allem ein bisschen präsentiert: Ein Tupfer Allman über einem Clapton-Lauf beispielsweise, oder ein typisch Hendrix'sches Solo mit bluesig gefärbten, an Peter Green erinnernden Motiven.

Man mag sich vielleicht zu allererst einmal fragen, für was für eine Klientel Roine Stolt dieses Album eingespielt hatte. Ich denke, er hat dieses Werk zuerst einmal ganz für sich gemacht. Dann aber natürlich auch, um seine Roots auszuleben, und dies auch noch ganz in seiner eigenen Art als Konzeptwerk. Die Thematik des Albums ist der Werteverfall der Menschheit, das Geld, das alles regiert und zusammenhält, bis es zum grossen Knall kommt und die offensichtliche Unfähigkeit der Erdenbewohner, die vorhandenen und knapper werdenden Ressourcen zu bewahren und sorgsam und bedacht mit ihnen umzugehen. Ein schönes Thema, das wiederum Assoziationen zum progressiven Konzeptrock der Flower Kings weckte. Also eigentlich bewegte sich Roine Stolt gar nicht mal so weit weg von der Art, Musik zu machen, die man schon seit jeher von ihm kannte. Musikalisch allerdings war das nicht Flower Kings-mässig, was er da ablieferte. Der Blues in seiner rockigen Spielart drang hier aus jeder Pore. Es wurde vom ersten Moment an gegroovt. Die Musik erhielt enorm viel Raum zum Atmen. Die Songs waren in den seltensten Fällen nach vier Minuten beendet. Statt dessen durfte die Band, zu der Marcus Lillequist am Schlagzeug, Victor Woof am Bass sowie bei einzelnen Liedern noch Neal Morse Gesang und Gonzo Geffen an den Keyboards gehörten, ihrem Spieltrieb freien Lauf lassen. Und das taten sie zur Freude des Hörers musikalisch absolut überzeugend. Lillequist liess sein Schlagzeug mal fein shuffeln und dann wieder straight grooven, er hielt die Band bei allen Expeditionen immer tight zusammen und gab immer einen wunderbaren Bluesrock-Grundrhythmus vor.

"Wall Street Voodoo" konnte nicht nur durch ein geschicktes Namedropping überzeugen. Die sechzehn erstklassigen Bluesrock-Kompositionen gingen rasch ins Ohr und boten über knapp zwei Stunden Spielzeit hinweg kurzweilige Unterhaltung. Einmal gab sich Roine Stolt betont funky, wie etwa im Titel "Everybody Is Trying To Sell You Something", mal ergaben sich progressivere Frickel-Passagen wie im abschliessenden "People That Have The Power To Shape The Future". Die teils auffallend langen Songtitel wurden durch ein gemeinsames Grundthema zusammengehalten und erzählten von den Dingen, die in unserer modernen Welt am wichtigsten scheinen: Viel Geld zu verdienen, schnelle Autos zu fahren und der Dekadenz zu verfallen. Genau der richtige Stoff also für alle Zivilisationskritiker unserer Zeit. Einen richtigen Hit, der sich so schnell nicht mehr aus den Gehörgängen vertreiben liess, konnte Roine Stolt auf "Wall Street Voodoo" zwar nicht präsentieren, dafür bewegten sich die Titel des Doppelalbums aber auf einem konstant hohen Niveau, das glücklicherweise keinen Raum für unterklassigen Füllstoff bot. Interessant und absolut hörenswert waren auch die teils sehr gschmeidigen und rhythmisch anmachenden Basslinien, gespielt von Vistor Woof. Er überraschte immer wieder mit einem leicht singenden Ton und verstand sein Instrument nicht nur als reines Rhythmusinstrument wie bei üblichen Rockbands meist hörbar, sondern spielte häufig eigene Linien, die den Songs eine zusätzliche melodiöse Ebene geben, die zum mehrfachen Hören verleitete. Der Spass bei den Aufnahmesessions war auf jeden Fall deutlich hörbar. Akzentuiert wurde das alles durch den Einsatz von Hammond Orgel, Stage Piano und Moog. Dies gab dem Album einen sehr authentischen, vibrierenden und erdigen Blues-Sound, der jenem der frühen Allman Brothers ziemlich oft recht nahe kam.

Das Highlight des Albums war jedoch das zu fast jederzeit extrem gefühlvolle Gitarrenspiel von Roine Stolt. Soviel Blues hätte man dem progressiven Rockmusiker gar nicht zugetraut, wenn man nur seine bisherigen Alben mit den Flower Kings und Transatlantic, sowie seine vier Soloalben davor betrachtet hatte. Aber ja, dass er den Blues hat, konnte er hier eindrücklich unter Beweis stellen. Seiner Gitarre hatte er zudem einen erstklassigen Sound verpasst, der ideal zum Bluesrock passte. Und er nahm sich viel Zeit, seine Melodielinien zur Entfaltung zu bringen. Zudem liess er die verwendeten Fender, Les Paul, Rickenbacker und diversen anderen Gitarren herrlich und beseelt singen, kreischen und rocken. Dazu brauchte man sich nur den Opener "The Observer" oder das mit einer wundervollen Slide Gitarre gespielte "Dirt" anhören. In manchen Passagen von "Dog With A Million Bones" hörte man sogar leichte Zitate von Frank Zappa's abstrakten Spielmustern heraus. Eine solche hörbare Bandbreite an musikalischen Einflüssen fand man selten auf einem mehr oder weniger schlüssigen Bluesalbum. Eine weitere positive Überraschung stellten die anspruchsvollen Songtexte dar. Hörte man sonst häufig auf Bluesalben immer wieder dieselben Geschichten rund um die Themen Liebe, Verlust und Tod, so waren die Texte von "Wall Street Voodoo" es definitiv wert, das beigelegte Booklet herauszuholen und sich damit auseinander zu setzen. "The Observer" behandelte beispielsweise sehr eindringlich die Ungerechtigkeit, die in der Welt herrscht, während sich die Zeilen zu "Head Above Water" um Konsumwahn und schnellen Genuss drehten. Auch die Pop-Stars mit ihrem Anhang an Betreuern, Speichelleckern und Nutzniessern blieben nicht unbehandelt, nachzuhören in "Dog With A Million Bones".

Den Gesang auf dem Album teilten sich Roine Stolt und Neal Morse. Die beiden kannten sich ja aus gemeinsamen Transatlantic-Tagen und Stolt hatte auch auf Solowerken von Neal Morse auch einige Gitarrenpassagen gespielt. Zu Neal Morse's Stimme muss man eigentlich nicht viel sagen. Sie ist eine der ausdrucksstärksten im Bereich der heutigen Rockmusik. Alles in allem war "Wall Street Voodoo" ein sehr gelungenes Solo-Projekt, mit sehr gefühlvoller und ausdrucksstarker Musik, herrlich umgesetzt von exzellenten Musikern. Fans von Kenny Wayne Shepherd, Johnny Lang und dem bluesigen Gary Moore sollten auf jeden Fall mal in dieses Album hineinhören. Sie könnten mehr als nur angenehm überrascht werden. Roine Stolt hatte es mit diesem Album geschafft, sich zwischen alle stilistischen Stühle zu setzen. Und das war gut so, weil es die eigenen, bequemen, eingefahrenen Hörgewohnheiten in Frage stellte und dadurch Missverständnisse geradezu herausforderte. Denn weder bediente es die gängigen Bombast- und Progressive Rock-Klischees, noch war es ein typisches Retro-Bluesalbum. Es war irendwie etwas ganz Neues, Originelles, ein postmodernes Rock-Kaleidoskop, dessen Elemente sich ständig veränderten, das vibrierte und changierte, durch die Gitarre aber gleichsam geerdet wurde. Sicher, die Musik nahm ihren Ausgangspunkt bei den Heroen der späten 60er Jahre, versuchte aber nicht, diesen spezifischen Sound authentisch wiederzubeleben, was eher langweilig und beliebig gewesen sien dürfte, sondern ging schnell eigene Wege. "Wall Street Voodoo" war durchaus sperrig und gewöhnungsbedürftig und hinterliess vielleicht deshalb bei vielen Hörern zunächst eine gewisse Ratlosigkeit. Roine Stolt's notorischen Verächter sahen sich bestätigt und betrachteten das Werk eher kritisch bis ablehnend; aber auch seine Fans mussten erst lernen, mit dieser geballten Ladung von angeschrägtem Psycho-Blues umzugehen.

Diese Musik hatte darum letztlich wohl keine bestimmte Zielgruppe, sondern stand ganz für sich selbst da, sie wollte erobert werden, machte dem Hörer das Kompliment, dass sie ihm nichts konzedierte, keine Erwartungen bediente, nur ihrer eigenen Dynamik, ihrer eigenen inneren Logik gehorchte. Man musste im Grunde ganz neu hören lernen, um dieses Album richtig zu hören. Grob umschrieben hätte man es vielleicht so ausdrücken müssen: Bluesige Gitarren-Jams aller Schattierungen und Spielarten, eingebettet in kantig-zerklüftete, psychedelische, leicht angeproggte Songstrukturen. Nichts für den musikalischen Quickie zwischendurch, kein lauer New Artrock, kein süffiger Balsam für die stressgeplagte Seele, sondern Musik, die fordert, die an- und aufregt, die gängige Klischees durchbricht, und die man wohl entweder nur lieben oder hassen kann. Wer nicht die "schnelle Nummer" suchte, die musikalische Beschleunigung von Null auf Hundert in 2 Sekunden, sondern wer die Zeit und den Willen mitbrachte, sich dem Flow dieses Albums zu überlassen, wurde am Ende jedoch reich belohnt. So vieles, was heutzutage gerade auch im Bereich progressiver Musik gelobt und gepriesen wird, ist im Grunde nichts weiter als gepflegter musikalischer Rasen, ein netter Töne-Garten, in welchem es sich angenehm leben lässt. Roine Stolt's Musik ist dagegen musikalisches Urgestein, Wildwuchs, Urwald und Abenteuer.



Das Album ist mir seinerzeit durch die Lappen gegangen, die Preise die dann aufgerufen wurden, waren ja teilweise exorbitant. So blieb es bei The Flower King und Hydrophonia (Instrumental) von Stolt, wobei mir bis dato nicht klar ist, ist Manifesto Of An Alchemist nun ein Soloalbum oder nicht.
Die Rezension ist wirklich sehr gut und detailliert geschrieben, beim Lesen fielen mir die Rezensionen bei den Babyblauen ein, die damals ziemlich abwertend waren, wobei ja auch die Flower Kings dort nie wirklich gut weg kommen, selbst starke Alben werden da teilweise zerrissen, manchmal habe ich das Gefühl, der eine oder andere schreibt da nur Rezensionen, um Bands oder Musiker niederzumachen, und die Wut über eigene Unzulänglichkeiten loszuwerden.Von den vielen positiven Eindrücken, die Du hier vermittelst, ist da nur teilweise zu lesen. Leider gibt es bei Bandcamp nur The Flower King und Manifesto Of An Alchemist zu hören, mal sehen, ob ich es irgendwann schaffe, mir das Album zuzulegen.
https://www.babyblaue-seiten.de/index.p ... 34&grade=7
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